Northanger Abbey - Jane Austen
- versus

- 23. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Nov.
Die Abtei von Northanger, wie das Buch in der Vergangenheit auf dem deutschen Markt betitelt wurde, steht zwar oft im Schatten Austens bekannterer Romane, ist jedoch nicht weniger ein historisches Artefakt. Es zeugt von zeitgenössischer Scharfsinnigkeit und Gesellschaftskritik und ist ein Beweis für die anhaltende Relevanz einer Schriftstellerin, die den westlichen Literaturkanon geprägt hat wie kaum eine andere Frau. Northanger Abbey mag sich als unbeschwerte Satire tarnen, doch unter ihrer unbekümmerten Oberfläche verbirgt sich ein tieferer Kommentar zu Medienkonsum, Geschlechterrollen und Sozialdynamiken.
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Die Lektüre von Northanger Abbey ist wie eine Zeitreise in die Regency-Ära. Noch mehr sogar, denn er vertieft unser historisches Bewusstsein durch Vermenschlichung: Vergangene Wert, Sprache und Mode wirken auf uns oft befremdlich. Auch der Umstand, dass wir keine Ton- und Bewegtbild-Aufnahmen aus dieser Zeit, sondern lediglich die Abstraktion durch Ölgemälde und gestelzter Sprache in Romanen, zur Verfügung haben, hilft nicht gerade dabei, uns besser mit den Menschen der Vergangenheit zu identifizieren.
Die von Austen geschaffenen Charaktere sind jedoch keine distanzierten, abstrakten Figuren, wie wir sie aus Wandportraits oder Geschichtsbüchern kennen. Sie sind atmende, lebendige Wesen, deren Denken, Fühlen und Straucheln uns auf erstaunliche Weise vertraut erscheint. Mit ihrem Verständnis für das menschliche Innenleben fängt Austen die privaten Monologe und widersprüchlichen Emotionen ein, die unser tägliches Leben auch heute noch begleiten. Ihre Figuren haben mit Stolz, Angst, Zuneigung, sozialen Ambitionen und Selbsttäuschung zu kämpfen; zeitlose Auseinandersetzungen, die über Epochen hinweg bestehen. Wenn es denn mal eine Diskrepanz zwischen dem Denken und Handeln der Romanfiguren und uns gibt, dann liegt sie meist in den gesellschaftlichen Zwängen ihrer damaligen Welt begründet, nicht im menschlichen Wesen an sich.
Inhalt
In Jane Austens Northanger Abbey folgt der Leser der siebzehnjährigen Catherine Morland, einem naiven und gutmütigen Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das ihre erste große Reise in die Kurstadt Bath unternimmt. Dort freundet sie sich mit der oberflächlichen Isabella Thorpe und deren Bruder John an, verliebt sich jedoch in den aufrichtigen Henry Tilney, einen jungen Mann mit scharfem Verstand und ironischem Humor. Als Henrys Vater, General Tilney, Catherine zu einem Aufenthalt auf das namensgebende Familiengut Northanger Abbey einlädt, gerät die romanbegeisterte junge Dame völlig in den Bann der gotischen Atmosphäre dieses alten Klosters. Beeinflusst von ihrer Vorliebe für die damals sehr populären Schauer-Romane (insbesondere Ann Radcliffes Udolphos Geheimnisse), entwickelt Catherine den Verdacht, der General könnte seine verstorbene Frau ermordet haben. Die darauffolgenden finalen Auflösungen vieler vorhergehender Ungereimtheiten beruht auf mehr als nur einer Fehlannahme aller beteiligten Personen und führt zu einer unterhaltsamen Handlungswendung.

Die Struktur von Northanger Abbey ist sowohl traditionell als auch innovativ. Sie folgt den Modellen des Bildungs- und des Sittenromans zugleich und zeichnet Catherines psychologische und moralische Entwicklung nach. Die erste Hälfte des Romans, die in Bath spielt, ist eine detaillierte Gesellschaftskomödie mit Fokus auf Sitten und Gebräuche, während die zweite Hälfte in ein pseudo-gotisches Abenteuer mit Lerneffekt übergeht.
Konzepte
Austens Satiren sind höflich subversiv. Sie kritisiert die Systeme, die das Leben ihrer Figuren bestimmen (Patriarchat, Klassenwesen, kommerzialisierte Ehe), ohne sie radikal abzulehnen. Ihre Rebellion ist subtil und zwischen den Zeilen zu lesen und für unser polarisiertes Zeitalter ein ungewohntes Beispiel für gemäßigte Dissidenz.
Darüber hinaus hebt Austen traditionell weibliche Tugenden hervor: Freundlichkeit, Vertrauen, Zusammenarbeit und emotionale Intelligenz. Cathrine Morland ist höflich, neugierig und offenherzig. Ihre Integrität liegt in ihrer Bereitschaft zu lernen, Fehler zuzugeben und zu wachsen. Austen demonstriert, dass emotionale Offenheit, wenn sie von Demut geleitet wird, eine Stärke ist.
Northanger Abbey ist definitiv kein Abenteuerroman, sondern Gemütlichkeitsliteratur. Jedoch propagiert das Buch und auch die anderen Romane Austens, das moderne Konzept der Mikroabenteuer: die Idee, dass selbst kleine Erlebnisse wie der Besuch einer neuen Stadt oder die Teilnahme an einem Tanzabend bedeutungsvoll sein und eine Veränderung bewirken können. Für Catherine ist der Abschied von ihrer ruhigen Heimat auf dem Land und der Umzug in das geschäftige Bath eine echte Odyssee. In ihrer Welt kann die Wahl eines Tanzpartners sozialen Triumph oder Katastrophe bedeuten. Der Roman erinnert die Leserschaft daran, dass Aufregung nicht notwendigerweise in lebensgefährlichen Situationen zu finden ist, sondern auch in der Wahrnehmung und der Fähigkeit, die (soziale) Welt zu beobachten und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Sprache & kulturelle Bedeutung
Jane Austens innovative Verwendung der erlebten Rede in Northanger Abbey markiert einen bedeutsamen Wendepunkt in der westlichen Literaturgeschichte. Während ihre Zeitgenossen noch weitgehend auf die traditionellen Erzählformen des 18. Jahrhunderts zurückgriffen, war Austen die erste Schriftstellerin (neben Goethe), die mit der erlebten Rede eine revolutionär moderne narrative Technik konsequent in ihren Romanen angewendet hat. Diese Verschmelzung von Erzähler- und Figurenperspektive, bei Gedanken unmittelbar in den Erzähltext einfließen, war literarisch wegweisend. Austens Pionierleistung lag darin, dass sie durch diese Technik eine neue Form psychologischen Erzählens etablierte, die es ermöglichte, das Innenleben ihrer Figuren mit bisher ungekannter Subtilität darzustellen. Die erlebte Rede erlaubte es ihr, gleichzeitig Empathie für ihre Heldinnen zu erzeugen und ihre naive Wahrnehmung ironisch zu kommentieren. Eine narrative Komplexität, die den Grundstein für den modernen psychologischen Roman legte und Austen als Vorläuferin der literarischer Moderne auszeichnet.
Die Ausgabe
Wie auch bereits mit den Sherlock Holmes-Ausgaben stellt Coppenrath mit der Janes Austen-Reihe mal wieder seine Verlagskompetenz in Sachen hochwertiger Buchgestaltung unter Beweis. Auch diese Edition ist mit einem passend feminin gestaltetes Hardcover mit Strukturpapier, Hochprägung, Goldfolie, Leseband und einem eingearbeiteten Titel-Etikett eine optische Aufwertung für jede klassische Buchsammlung. Im Innenbereich verleihen zahlreiche florale Illustrationen von Marjolein Bastin dem Klassiker Lebendigkeit, während zehn aufwendig gestaltete Extras, darunter narrativ-nahe kleine Karten, Briefchen oder Infozettel, das Leseerlebnis und das historische Verständnis erweitern.
Fazit
Eine Rezension wäre jedoch ohne Kritik nicht vollständig. Northanger Abbey mag für manche nicht die narrative Kraft von Austens späteren Werken haben. Manche Leser mögen auch Catherines Mikroabenteuer als zu risikolos und die Konflikte als zu zurückhaltend empfinden. Lässt man sich jedoch darauf ein, dass es eine entschleunigte und entschleunigende Lektüre ist, kann man sich nach Beendigung ebendieser, mit Fug und Recht den Orden der Kultiviertheit anheften und einen Platz in der Konversation des westlichen Kulturkanons mit einnehmen.
Titel | |
Northanger Abbey | |
Autor | ISBN |
Jane Austen | 978-3-649-64112-4 |
Inhalt | |
★★☆☆☆ ruhig und risikoarm | |
Sprache | |
★★★☆☆ vornehm und historisch | |
Aufmachung | |
★★★★★ Struktureinband, Illustrationen, Ephemera |

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